Neues aus der Quest Akademie
Ein Thema, das mir nicht nahe ist: Distanz.
Barbara Guthy ist MI Trainerin und Künstlerin. Bei ihrer Landart Kunst und ihren Skulpturen beschäftigt sie sich mit vielen Themen, die auch immer wieder Annährungen an Themen in der Kommunikation und speziell die Arbeit mit MI finden. Für ein neues Projekt hat sie sich, passend zu den Zeiten der Pandemie, mit dem Thema Distanz auseinandergesetzt. Ein Thema, das ihr nicht unbedingt auf Anhieb leicht fiel. Wir haben uns mit ihr über ihren Prozess und ihre Gedanken dazu unterhalten.
Als du die Ausschreibung für eine Kunstaustellung zum Thema Distanz gesehen hast, hast du da erstmal innegehalten und dich gefragt, ob du dazu überhaupt etwas Künstlerisches darstellen kannst?
Ja. Also zum Hintergrund: Kunstvereine oder andere Institutionen wählen ein Ausstellungsthema und machen dann eine Art „Open Call“ mit der Frage: „Wer hat Lust da auszustellen?!“. Ich filtere die Ausschreibung nach den Kriterien und Themen, die zu mir und zu dem, was ich künstlerisch anbiete, passen. Und dann kommt der Knackpunkt mit dem Thema: Interessiert mich das überhaupt?
Du musst fühlen, ob dir zu dem Thema überhaupt etwas einfällt, ob da Kreativität entsteht.
Genau. Ich screene die Ausschreibung und da fängt es bei mir schon an zu rattern: Wie passt das zu mir? Passt das zu dem, was mich gerade interessiert? Es gibt natürlich Themen, da denke ich, das ist abgefrühstückt, das hatte ich schon, das brauche ich nicht nochmal. Aber dieser Prozess löst eben auch interessante Impulse aus. In diesem Fall war es das Thema Distanz, abgeleitet von dem gerade so öffentlichen Thema „Social Distancing“. Und die interessante Erkenntnis war, dass sich zu diesem Thema gar nichts in meinem Repertoire befindet. Aber so rein gar nichts.
Und dabei hast du schon ein sehr großes Repertoire.
Ja eben. Also habe ich überlegt, in der begrenzten Zeit, die ich hatte, wie setze ich dieses Thema für mich stimmig um.
Und die Ausschreibung hat dir wirklich nur das Wort „Distanz“ vorgegeben, nicht eine nähere Richtung oder Fragestellung? Du warst vollkommen frei es zu interpretieren?
Ja, genau. Ich habe mir gedacht, ich muss sehen, was es für mich bedeutet. Jeder Mensch hat seine eigene Welt darüber zu denken, seine eigenen Erfahrungen. Ich habe mich dadurch sehr frei gefühlt einfach zu schauen, was dieses Thema bei mir auslöst. Und wie ich es gerne dreidimensional fassen will.
Kamen dir dann gleich Ideen oder war es schwierig in den Prozess zu finden?
Also, wenn ich Material finde – meistens Holz, aber das kann auch Stein sein oder Naturmaterial – wenn mir so ein Material ‚zufällt‘, dann löst es schon was bei mir aus, z.B.: „Oh ja, damit möchte ich mal etwas machen“. Hier fängt es schon an, ich nenne es An- „Näherung“. Das Material und ich treten in einen Kontakt. In diesem Fall habe ich bei meiner alten Wohnung über drei Jahre einer Kernsanierung hautnah beigewohnt. Beim Haus nebenan, mit dem ich mir einen Hof teilte, wurde der Dachstuhl erneuert und neue Dachbalken eingesetzt. Da standen also wunderbare, alte, drei Meter hohe Dachbalken auf unserem Hof rum, und ich konnte ein paar retten.
Du warst dem Material also sehr lange sehr nah, schon bevor du es für deine Kunst verwendet hast.
(lacht) Ja, schön, so war es. Ursprünglich wollte ich eine Gruppe daraus machen.
Weil du drei hattest?
Es sind sogar eigentlich fünf. Ich habe für diese Projekt aber nur drei verwendet. Das heißt aber, sie kommen alle aus demselben Dachstuhl und waren für mich als erste Idee ein „Ensemble“ – auch so ein Wort, wo irgendwas zusammengehört. Es war mir aber klar, dass es bei dem Thema Distanz einen Referenzpunkt geben muss. Es ist viel schwieriger, mit nur einem einzelnen Stück eine Distanz auszudrücken, oder mit zweien. Bei zwei kann es passieren, dass du - je nachdem, wie nahe du davor stehst - anders interpretierst, ob die beiden weit voneinander entfernt sind oder eng zusammen. Denn je mehr ich mich entferne, desto näher rücken die zwei Objekte. Also war für mich klar, wenn ich das Thema Distanz umsetzten will, ist es ein relatives Thema. Distanz ist kein absolutes Maß.
Es kommt auf die Perspektive an, die man dazu einnimmt.
Genau, das ist die eine Relation: „Wie weit bin ich weg von dem Geschehen?“. Aber als zweites kann auch spannend sein, dass wir unabhängig davon, wie weit wir als Betrachtende weg sind, dieses Thema erfassen. So kam ich auf die Dreierkonstellation. Dabei stehen zwei sehr eng beieinander und ein Drittes in einem deutlich größeren Abstand. Aus diesem Zusammenspiel wird ganz deutlich: das eine ist nah und das andere ist fern.
Stimmt, Distanz, so wie wir jetzt darüber sprechen, ist etwas, was man eigentlich vor allem fühlen kann. Wie in menschlichen Beziehungen, ob man sich nah oder fern voneinander fühlt, ist subjektiv. Wie Distanz für eine außenstehende Person sichtbar und erkennbar wird, ist dann eine sehr spannende Frage.
Ja, das war mein Gedanke. Ich habe mich in meinem Studium der Semiotik ganz stark mit dem Thema Proxemik beschäftigt. Von „proximus“, lateinisch, der Nächste. Proxemik setzt sich damit auseinander, welche Signale von Nähe senden Menschen aus.
Signale von Nähe, also woran man erkennt, dass man sich nah ist?
Genau. Das hat mich schon immer interessiert. Woran erkenne ich Nähe, zum Beispiel in einem Text, einem Roman?
Daran, dass, zum Beispiel, bestimmte Wörter verwendet werden?
Zum Beispiel. Es wird unterschieden zwischen intimer Nähe, persönlicher Nähe, sozialer Nähe und öffentliche Nähe. Das geht bis hin zu Zentimeterangaben für die Unterscheidungen, die sind von Kulturkreis zu Kulturkreis unterschiedlich.
Ja, das kenne ich aus der interkulturellen Kommunikation. Dabei muss man immer mitdenken, was in anderen Kulturkreisen gegeben ist und ganz häufig geht es dabei um Körpersprache. Wie nah darf man sich beim Sprechen kommen, bevor es der anderen Person unangenehm wird. Wo beginnt der sogenannte „personal space“ (Nachtrag im Deutschen „persönliche Distanzzone genannt“). Und wie wichtig sind Berührungen, zum Beispiel sich die Hand reichen oder Ähnliches. In Südeuropa ist der angemessene Gesprächsabstand, zum Beispiel, sehr viel geringer als bei uns in Deutschland oder Nordeuropa. Wenn man aus einer distanzierteren Kultur kommt, kann man sich dann schnell bedrängt fühlen, oder anders herum, nicht wertgeschätzt, wenn Nähe jemandem kulturell wichtiger ist.
Und was zum Beispiel in diesem Zusammenhang erst in den letzten Jahren mehr diskutiert wird ist das Thema sexuelle Belästigung. Da findet eine Sensibilisierung statt. Ab wann trete ich jemandem zu nahe?
Das ist spannend, weil da plötzlich sehr viele gesellschaftliche Dynamiken zum Thema Distanz dazukommen. Das Verhältnis Mann – Frau, Hierarchien, alt – jung.
Ja, und spannend ist tatsächlich, dass wir das ganz unbewusst machen. Menschen, die den besonderen kulturellen Code nicht kennen, wird es sofort irritieren oder sie werden ein bestimmtes Verhalten sofort ganz anders interpretieren. Deswegen ist ganz klar, die Empfindung von Nähe und Distanz ist immer etwas Relatives. Relativ zu unserer Erfahrung, zu unserer Position. Bei der Skulptur die ich für die Ausstellung gemacht habe – eigentlich ist es ja ein Ensemble – definiert die Nähe von zweien quasi die Position der dritten.
Du sagtest, es sind eigentlich fünf Balken. Du hast dich aber entschieden, das Ensemble nur mit drei zu machen. War das, um mehr Klarheit zu schaffen?
Zum Teil waren es inhaltliche Aspekte, zum Teil pragmatische. Die Zeit war zu kurz für das Bearbeiten von fünf Stämmen, von daher dachte ich, ich fange mal mit drei an. Aber, wenn man darüber nachdenkt, ändern sich auch die Dynamiken, wenn mehr Stämme dazu kommen. Wenn da jetzt fünf Balken stehen und einer davon ist außen, wird das Thema dann mehr oder weniger deutlich?
Es hätte für mich fast etwas Radikaleres. Wenn die Gruppe größer wird, im Vergleich zu dem einem abseitsstehenden Objekt, wird es fast zu einer Gesellschaftskritik.
Ja, mein Gefühl war, wenn es eine Vierergruppe plus einen einzelnen Stamm außerhalb gibt, entsteht für mich die Versinnbildlichung von Ausgrenzung.
Ich hatte sofort Themen wie Rassismus in der Gesellschaft oder Ähnliches im Kopf.
Denn ab drei beginnt eine Gruppe. Für das vierte oder fünfte Objekt heißt das: gehören sie dazu oder sind sie ausgeschlossen? Distanz ist schon schlimm genug, aber dann hätte es tatsächlich noch eine krassere Aussage bekommen.
Entfremdung als die Überspitzung von Distanz.
Ja, eine Art unüberbrückbare Distanz. Deshalb habe ich mich inhaltlich dafür entschieden, es bei drei Stämmen zu belassen.
Du hast Muster mit der Kettensäge in das Holz gesägt. Das sieht sehr beeindruckend aus.
Das hat mich auch komplett körperlich gefordert, diese 2,70 Meter langen Balken zu bearbeiten.
Und die Muster, die du erschaffen hast, was für eine Bedeutung haben die für das Kunstwerk?
Ich wollte das Individuelle der Balken hervorheben. Eine weitere Aussage des Kunstwerkes soll sein, dass unsere Wahrnehmung von Nähe und Distanz von unseren eigenen Erfahrungen geprägt ist. Ich wollte die ‚Prägung‘ quasi künstlerisch umsetzten. So zeigt jeder: „So bin ich. Das sind meine Geschichte, meine Erfahrung, meine Verletzungen.“ Je nachdem, wie du es sehen willst. So wird jeder dieser Balken nochmal individueller erkennbar.
Es sind Dachbalken aus dem gleichen Haus, es sind Dachbalken aus dem gleichen Holz und doch haben sie unterschiedliche Prägungen. Die hatten sie schon die ganze Zeit und wurden von dir jetzt nur nochmal mehr herausgearbeitet.
Genau.
Und das versinnbildlicht auch, wie wir individuell Nähe und Distanz ertragen. Es hängt auch davon ab, was für Erfahrungen wir damit gemacht haben. Es gibt ja die Distanztypen und die Nähetypen.
Genau. Deshalb ist es für mich persönlich auch nicht überraschend, dass ich bisher keine Kunst zum Thema Distanz hatte. Das passt zu mir. Da hatte ich nur bisher nie drüber nachgedacht, es gab nie einen Anlass dazu.
Nähe ist etwas, was natürlicher zu dir kommt und dir leichter fällt.
Ja, ich habe dann auch mal die Titel meiner bisherigen Arbeiten angeschaut. Einer heißt zum Beispiel „Willkommen“, einer tatsächlich direkt „Nähe“, einer heißt „Verbindung“, also eher diese Richtung. Distanz war mir ein nicht naheliegendes Thema (lacht).
Und wie hat es sich angefühlt, das Thema plötzlich vor dir zu haben und damit zu arbeiten?
Ich fand es sehr anregend, weil über diese Themenstellung nochmal deutlicher wurde, wie wichtig das Thema Nähe ist. Ich beschäftige mich mit Distanz und komme sofort auf die Wichtigkeit von dem, was es nicht ist.
Dieses Spannungsverhältnis zwischen beidem braucht man ja auch. Das eine ist besser zu definieren, wenn man sich mit dem anderen beschäftigt.
Ich habe das Thema Nähe und Distanz und den ganzen Arbeitsprozess auch nochmal mehr auf die MI-Methoden reflektiert. Die Annäherung an das Material ist ein bisschen, wie offene Fragen aktiv zuhören. „Was kannst du den werden?“ „Naja, ich werde jetzt keine Kugel“, würde dann so ein Dachbalken sagen. Und es ist etwas sehr Nahes, dann mit dem Werkzeug an die individuellen Strukturen zu gehen und diese freizulegen. Gleichzeitig muss ich dann häufig, ganz wörtlich, mehrere Schritte zurücktreten, um die nächsten Schritte überlegen zu können. Also, ich kann nicht immer nur in der Nähe verbleiben, ich brauche dieses pulsierende Annähern, Distanzieren, wieder Annähern.
Du hast in deiner Arbeit selbst Nähe- und Distanzprozesse.
Genau. Und normalerweise arbeite ich auch mit klassischem Werkzeug – Stechbeitel und Klüpfel - , sehr nah am Material. Bei diesem Projekt aber habe ich mit der Kettensäge gearbeitet, wodurch du eigentlich immer mindestens eine Armlänge vom Objekt entfernt bist.
Du hast an einem Projekt zum Thema Distanz gearbeitet, mit einem Werkzeug, das selbst Distanz geschaffen hat. Wow! Du hast die Distanz also wirklich gefühlt.
Genau. Die Kettensäge ist kein Kuschelwerkzeug. Wenn ich sonst arbeite, dann duftet es und ich fühle es. Mit der Kettensäge ist es laut und härter. Wenn ich Kurse im Bildhauen gebe, sehe ich Menschen immer überrascht, wenn sie hören, wie stark das Werkzeug Einfluss auf die Gestaltung nimmt. So eine Motorsäge erzeugt per se einfach schon andere Dynamiken und Formen.
Was gibt es noch für Parallelen in der Arbeit zwischen dir als Künstlerin und dir als Trainerin?
Sagen wir mal so: am Anfang meiner Bildhauerausbildung hatte ich noch keine Worte dafür, um zu beschreiben, wie ich in einen Dialog mit dem Material treten wollte. Das war früher auch nicht der Ansatz. Ich nehme jetzt mal bewusst die männliche Sprache: Der große Meister hat eine geniale Idee und drückt die dem Material auf. In dem Sinne, „ich will das so machen, und das Material hat sich zu fügen“. Deswegen war dann die unausgesprochene Schlussfolgerung, dass das Material am Ende keine eigenen Spuren mehr zeigen durfte. Es musste alles die Handschrift des Meisters sein. Es passierte erst sehr spät, erst im 20 Jahrhundert, dass, zum Beispiel, Bruchkanten da sein durften, die nicht bearbeitet waren. Erst langsam wurde dem Ausgangsmaterial sozusagen etwas mehr Augenhöhe gegönnt.
Damit meinst du, dass das Material etwas von seiner Persönlichkeit behalten darf, ohne, dass es als Fehler betrachtet wird.
Ja. Dass ich in meiner Ausbildung so wenig Unterstützung hatte in meiner Annährung an das Material, habe ich erst später in meiner Kommunikationsausbildung verstanden. Weil für mich in beidem die gleiche Augenhöhe eine Wichtigkeit hat. Ich denke nicht, ich habe die Idee, und ich drücke dir das auf, und dann bleibt vielleicht höchstens noch irgendwo eine kleine Bruchkante. Sondern, da gibt es ein Material, und ich habe wirklich damit einen Dialog darüber, was daraus werden könnte. Und ich habe auch schon Formen überarbeitet, weil die Form, die ich mir vorgestellt hatte, zu der Maserung des Holzes nicht gepasst hat. Ich bearbeite dann meine Form so, dass es insgesamt stimmig ist.
Du passt dich dem Holz an.
Eher: Es muss zusammenpassen. Das meine ich mit gleicher Augenhöhe. Das ist der Dialog, auch ein geschmeidiger Umgang mit Widerstand.
Und dann ist es eben wieder notwendig, dass du auch mal einen Schritt zurück gehst, anhältst und feststellst, das, was du dir vorgestellt hast, passt hier nicht.
So ist es.
Es passt also perfekt, du hast deine Kunst durch die Kommunikation besser verstanden, und gleichzeitig übst du durch die Kunst auch deine Kommunikation.
Genau, für mich ist das wirklich wie ein Reißverschluss: Es fügt sich in einander.
Das klingt nach einem sehr schönen und heilsamen Miteinander.
Manchmal werde ich gefragt: „Warum machst du nicht nur Kunst?“ oder so ähnlich. Für mich gehört einfach beides zusammen.